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Die Entstehung des wahren Kant

Historische Perspektiven zur Rezeption der kantischen Postulatenlehre im Kontext von Neukantianismus, Materialismus und Okkultismus um 1900

von Hauke Heidenreich (Autor:in)
©2022 Dissertation 698 Seiten

Zusammenfassung

Bis heute diskutieren Kant-Forscher:innen äußerst kontrovers darüber, wie die Postulatenlehre und die Lehre vom höchsten Gut aus Kants Kritik der praktischen Vernunft zu interpretieren seien. Auffällig ist, dass neukantianische Autoren in der Debatte eine zentrale Rolle spielen. Die Publikation geht den Fragen nach, wie die Debatte um 1900, der Hochzeit des Neukantianismus, aussah, in welchem Kontext Kants Morallehre gedeutet wurde und welche Akteure sie konkret in Anspruch nahmen. Der Autor eruiert mögliche Antworten auf diese Fragen. Er untersucht den Umgang mit den genannten Segmenten aus Kants zweiter Kritik in den philosophischen Diskussionen um 1900 und ordnet diesen in die wissenschaftlichen und politischen Debatten der Zeit ein. Der Band weist in diesem Kontext nach, dass die bis heute zitierten neukantianischen Deutungen der kantischen Morallehre ein Effekt wirkmächtiger spiritistischer, materialistischer und nationalprotestantischer Diskurse sind.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • 1 Einleitung
  • 2 Die Interpretation der Postulatenlehre in der modernen Kantforschung
  • 2.1 Der Umgang mit der Postulatenlehre bei Kant – allgemeine Diagnosen
  • 2.1.1 Thomas Höwing: das Problem höchstes Gut/Postulate
  • 2.1.2 Jürgen Habermas: Kant als nach-metaphysischer Denker
  • 2.2 Fallbeispiel: Das Spannungsfeld Philosophie vs. Theologie und die Zwei-Aspekte-Lehre
  • 2.2.1 Lewis White Beck: Zwei Aspekte statt zwei Welten
  • 2.2.2 Die Debatte um die zwei Aspekte
  • 2.2.2.1 Otfried Höffe: „Re-Theologisierung“ der Philosophie
  • 2.2.2.2 Reinhard Brandt: Die Empirisierung der Kantforschung
  • 2.2.2.3 Höffe vs. Brandt: ein Streit um die Postulatenlehre
  • 2.3 Weitere Positionen im Kontext der Zwei-Aspekte-Lehre
  • 2.4 Verortung des Neukantianismus in diesem Kontext
  • 2.4.1 Manfred Pascher: systematische Perspektive
  • 2.4.2 Werner Flach: Neukantianismus als Versuch zur Kulturphilosophie
  • 2.4.3 Mit wem stritten die Neukantianer? – Positionen
  • 2.4.4 Aktualität des Neukantianismus?
  • 2.4.5 Hinweise auf die Historizität des Neukantianismus
  • 2.5 Zwischenfazit
  • 3 Kontexte um 1900: Transformationen in der Universitätslandschaft und Konstruktion einer Nation
  • 3.1 Prolog: Max Weber und der Geist des Kapitalismus
  • 3.2 Politische Kontexte der zeitgenössischen Kantforschung
  • 3.3 Politisch-religiöser Kontext: die Konstruktion einer Nation
  • 3.3.1 Ein Ausgangspunkt: Kant als preußischer Staatsphilosoph?
  • 3.3.2 Aufklärung und Antikatholizismus
  • 3.3.3 Zusammenfassung
  • 3.3.4 Identität qua Ausschluss: Antikatholizismus als Episteme der Nation
  • 3.3.4.1 Leopold von Ranke: „germanische“ Emanzipation vom Papst
  • 3.3.4.2 Wilhelm Zimmermann: Luther als Engel der deutschen Nation
  • 3.3.4.3 Georg Voigt: deutscher christlicher Humanismus vs. „papistischer“ Unglaube
  • 3.3.4.4 Heinrich von Treitschke: der protestantische Geist in der Geschichte
  • 3.3.4.5 Zusammenfassung
  • 3.3.5 Adolf Zahn: Politik als Wirken Gottes
  • 3.3.6 Das Deutsche Reich und die Moderne – Forschungskontroversen um die Charakterisierung des 19. Jahrhunderts
  • 3.3.7 (Anti-)Katholizismus in politischen Kontexten des 19. Jahrhunderts
  • 3.3.8 Kulturkampf als Identitätsmarker
  • 3.4 Akademischer Kontext: die Konstruktion von Wissenschaft
  • 3.4.1 Allgemeine Transformationen in der Universitätslandschaft
  • 3.4.2 Fallbeispiel: Der Materialismusstreit und die Debatte ‚Materie vs. Od‘
  • 3.4.2.1 Forschungen
  • a) Michael Bergunder: Materialismus und Religion
  • b) Michael Pauen: Versuch einer Definition
  • c) Günther Mensching: Materialismus vs. aufklärerischen Materialismus
  • d) Zusammenfassung
  • 3.4.2.2 Materialismus im Kontext
  • a) Rudolf Wagner: Unsterblichkeit und Naturforschung
  • b) Carl Vogt: Köhlerglaube und Wissenschaft
  • c) Vogts Querverweis: Reichenbachs Od als konstitutives Außen
  • d) Reichenbachs Antwort: Vogts falsche politische Ansichten
  • e) Zwischenfazit: Politik, Wissenschaft, Religion
  • f) Ludwig Büchner: Materialismus statt Spiritismus und Kant
  • 3.5 Zusammenfassung
  • 4 Ein Knotenpunkt der Debatten – Ernst Haeckels Deutungen der kantischen Postulate
  • 4.1 Rezeption und Kontext
  • 4.1.1 Haeckel als moderner Naturwissenschaftler
  • 4.1.2 Haeckel als Atheist, Materialist oder Spiritist
  • 4.1.3 Paul Ziche: Haeckel als Provokation der „Fachphilosophie“
  • 4.1.4 Thomas Bach: Haeckel als Kantinterpret
  • 4.1.5 Zusammenfassung
  • 4.2 Haeckels Rezeption der kantischen Postulatenlehre
  • 4.2.1 Die Welträthsel
  • 4.2.2 Zusammenfassung
  • 4.2.3 weitere Kantrezeptionen Haeckels
  • 4.2.3.1 Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft
  • 4.2.3.2 Zusammenfassung
  • 4.2.3.3 Zellseelen und Seelenzellen
  • 4.2.3.4 Anthropogenie
  • 4.2.3.5 Natürliche Schöpfungsgeschichte
  • 4.3 Zusammenfassung
  • 5 Kantrezeption im Okkultismus
  • 5.1 Die Debatte um Kant und Swedenborg
  • 5.1.1 Swedenborg als Problem der Forschung
  • 5.1.1.1 Dietmar Heidemann: Klare Ablehnung?
  • 5.1.1.2 Wouter Hanegraaff: Esoterik vs. Aufklärung?
  • 5.1.1.3 Reinhard Brandt: Überwindung von Metaphysik/Geisterseherei/Religion?
  • 5.1.1.4 Zwischenfazit: Konsens Kant vs. Swedenborg
  • 5.1.1.5 Friedemann Stengel: Kants ambivalente Rezeption Swedenborgs
  • 5.1.1.6 Der Swedenborg-Diskurs zwischen Rationalismus und Spiritismus
  • 5.1.1.7 Zusammenfassung: die Themen der Forschung im Kontext
  • 5.1.2 Kantrezeption und Spiritismus im 19. Jahrhundert: Belege für Ambivalenzen
  • 5.1.2.1 J. F. I. Tafel: Kants Beweis der Unsterblichkeit der Seele
  • 5.1.2.2 Zwischenfazit
  • 5.1.2.3 Arthur Schopenhauer
  • a) Schopenhauers „wissenschaftlicher Okkultismus“
  • b) Versuch über das Geistersehn – Kant als Beweis des animalischen Magnetismus
  • c) Zwischenfazit
  • 5.1.2.4 Robert Zimmermann – Kants Glaube an Übersinnliches und Swedenborgs visionäre „Privatmeinungen“
  • 5.1.2.5 Zwischenfazit
  • 5.1.3 Zusammenfassung: Swedenborg-Debatte und Postulatenlehre
  • 5.2 Forschungsstand zum Okkultismus in Deutschland
  • 5.2.1 Systematische Perspektiven
  • 5.2.1.1 Neugebauer-Wölk/Baier/Stuckrad: Konzept/Tradition Esoterik
  • 5.2.1.2 Hartmut Zinser: Okkultes/Esoterik als vom Christentum Verdrängtes
  • 5.2.1.3 Wouter Hanegraaff: Okkultisten als Esoteriker
  • 5.2.1.4 Alexander Geppert: Begriffliche Einordnung des Okkultismus
  • 5.2.2 Historische Perspektiven
  • 5.2.2.1 Michael Bergunder: Okkultismus im historischen Kontext
  • 5.2.2.2 Diethard Sawicki: Okkultismus als historisches Problem
  • 5.2.2.3 Helmut Zander: Immanentisierung der Geisterhypothese
  • 5.2.2.4 Positionen zur Kantrezeption im Okkultismus
  • 5.2.3 Zusammenfassung
  • 5.3 Vorgeschichte: Spiritismus und Kant 1878/79 – Die Debatte um C. F. Zöllner
  • 5.3.1 Zöllners Wissenschaftliche Abhandlungen im Diskurs
  • 5.3.1.1 Haeckel und der Spiritismus
  • 5.3.1.2 Wissenschaftliche Abhandlungen, Band 1
  • 5.3.1.3 Direkte Reaktionen der Rezipienten
  • a) Carl Stumpf: Zöllners religiös-pseudokantischer Spiritismus
  • b) Wilhelm Wundt: Spiritismus kann Unsterblichkeit nicht beweisen
  • c) Weitere Positionen
  • d) Hermann Ulrici – Die Verteidigung Zöllners
  • e) Zusammenfassung
  • 5.3.1.4 Zöllners Antwort – Die Wissenschaftlichen Abhandlungen, Band 3
  • 5.3.1.5 Kontext: Swedenborg-Lektüren bei Kuno Fischer
  • 5.3.1.6 Weitere Reaktionen auf Zöllner
  • a) Johannes Huber: Mit Kant den Spiritismus erforschen
  • b) Benno Erdmann: Spiritismus, Materialismus und Postulatenlehre
  • 5.3.2 Zusammenfassung
  • 5.4 Die Deutung der Postulatenlehre im Okkultismus bei Carl du Prel und seinen Anhängern
  • 5.4.1 Forschungsstand zu Carl du Prel
  • 5.4.2 Carl du Prels Veröffentlichung von Kants Vorlesungen über Psychologie
  • 5.4.3 Weitere Schriften du Prels
  • 5.4.3.1 Rezension von Vaihingers Kantkommentar
  • 5.4.3.2 Die Philosophie der Mystik
  • 5.4.3.3 Artikel Kant und Swedenborg
  • 5.4.4 Zusammenfassung
  • 5.4.5 Walter Bormann: Kantsche Ethik und okkultes höchstes Gut
  • 5.4.6 Bormanns Brief an Maximilian Harden
  • 5.5 Zusammenfassung
  • 6 Zwischen den Fronten – Rezeption der Postulatenlehre bei neukantianischen Autoren
  • 6.1 Materialismus-Rezeption
  • 6.1.1 Kontext der Rezeption
  • 6.1.2 Erste Rezeptionen Haeckels als Ausgang einer Kontroverse um die Postulatenlehre im ‚Neukantianismus‘
  • 6.1.2.1 Erich Adickes: Kant contra Haeckel
  • 6.1.2.2 Friedrich Loofs: Haeckel als Gefahr für das Christentum
  • 6.1.2.3 Haeckels Selbstpositionierung
  • 6.1.2.4 Friedrich Paulsen: Haeckel als schlechter Kantinterpret
  • 6.1.2.5 Weitere Rezipienten
  • a) Maximilian Harden: Haeckels abergläubischer Materialismus
  • b) Fritz Mauthner: Haeckels abergläubischer Materialismus
  • c) Richard Hönigswald: Haeckels unkantischer, quasi-theologischer Materialismus
  • d) Albrecht Rau – die Vermittlung?
  • 6.1.2.6 Haeckels Anhänger
  • a) Heinrich Schmidt: Haeckel ist Kantianer
  • b) Rudolf Steiner: Haeckels Monismus als Argument gegen den religiösen Kant
  • c) Zusammenfassung
  • 6.1.3 Rezeptionen der Welträthsel durch spiritistische Autoren
  • 6.1.3.1 Max Seiling: Haeckels Unkenntnis von Kants Spiritismus
  • 6.1.3.2 Heinrich Schmidt vs. Max Seiling
  • 6.1.3.3 Walter Bormann: Haeckel ignoriert die Postulate
  • 6.1.3.4 C. Zimmer – innerspiritistische Differenzen?
  • 6.1.3.5 Max Seiling vs. Heinrich Schmidt
  • 6.1.3.6 Zusammenfassung
  • 6.2 Spiritismus-Rezeption
  • 6.2.1 Neukantianische Reaktionen auf du Prel und Bormann und die Debatte um die ‚objektive Realität‘ der Postulate
  • 6.2.2 Rekapitulierung – die moderne Kantforschung
  • 6.2.2.1 Höffe/Beck: Zwei Aspekte und ‚Als Ob‘
  • 6.2.2.2 Kantlexikon: Postulate und Als Ob
  • 6.2.2.3 Böhme/Böhme: das Andere der Vernunft
  • 6.2.2.4 Claudio La Rocca: Als Ob bei Kant
  • 6.2.2.5 Slavoj Žižek: Fiktionen als Voraussetzung der Vernunft
  • 6.2.2.6 Zusammenfassung
  • 6.2.3 Hans Vaihingers erste Reaktionen auf du Prels Kants mystische Weltanschauung
  • 6.2.3.1 Hans Vaihinger – Rezeption und Kontext
  • 6.2.3.2 Vaihingers Kant-Studien im Kontext
  • 6.2.3.3 Vaihingers erste Rezeptionen du Prels
  • 6.2.4 Weitere Reaktionen
  • 6.2.4.1 Kurd Laßwitz: Kant und die okkulten Schwärmer
  • 6.2.4.2 Vaihinger und von Lind: Ist Kant kein Swedenborgianer?
  • 6.2.5 Die Debatte um die Datierung der L1-Vorlesungen und Kants Beziehungen zu Swedenborg im Kontext der du-Prel-Rezeption
  • 6.2.5.1 Kontext: Pölitz und die Entstehung der L1
  • a) Pölitz im Kontext philosophischer Geister-Debatten um 1800
  • b) Pölitz: „wahrer Kant“ und Unsterblichkeit der Seele in L1
  • c) Pölitz zwischen zwei Fronten: Atheismus und Spiritismus
  • 6.2.5.2 Rezeption: Debatte um die L1 um 1900
  • a) Max Heinze: Vorlesungen sind vorkritisch und mystisch
  • b) Robert Hoar: Kant als unechter Mystiker zu Anschauungszwecken
  • c) Vaihinger/Hoar/Heinze: Trennung der Mystik von Kants kritischer Periode
  • d) Paul Menzer: Trennung der Vorlesungen von Kants Morallehre
  • e) Eberhard von Danckelman: Morallehre statt Geisterlehre
  • f) Kuno Fischer: Kants kritische Wende als Abwendung von Swedenborg
  • 6.2.5.3 Zusamenfassung
  • 6.3 Debatten um die Postulatenlehre und die Entstehung eines Kanons
  • 6.3.1 Paulsens Kantbuch – du Prel-Kritik und die Genese der Postulaten-Debatte
  • 6.3.1.1 Allgemeines
  • 6.3.1.2 Paulsens Immanuel Kant
  • a) Intelligible Welt
  • b) Kants kritische Wende, die Vorlesungen und der Spiritismus
  • c) Postulatenlehre und ‚Reich der Humanität‘
  • 6.3.1.3 Paulsens antikatholischer Artikel
  • 6.3.1.4 Zusammenfassung
  • 6.3.2 Fiktion statt Realität – Die Genese der Als-Ob-Debatte im Kontext der Rezeption von Paulsens Kant-Buch
  • 6.3.2.1 Erste Reaktionen auf Paulsen
  • a) Rudolf Eucken: Kant und Metaphysik
  • b) Erich Adickes: Kant glaubt an Seelensubstanz
  • c) Heinrich Rickert: Paulsens Metaphysik als in Kollegmitschriften befangene Halbheit
  • d) Paul Barth: Paulsens Moral vs. „Kreis der Kantianer“
  • e) Hermann Cohen: Paulsens vorkritische Metaphysik
  • f) Ludwig Goldschmidt: Kant hat kein Wissen vom Übersinnlichen vertreten
  • g) Otto Schöndörffer: Paulsens irrtümliche Einsicht in die intelligible Welt
  • h) Ernst Troeltsch: Paulsen vs. Neukantianer
  • i) Zusammenfassung
  • 6.3.2.2 Paulsens Kantbuch und die Debatte um den Spiritismus
  • a) Max Heinze: Postulate als Fiktionen oder Mystik?
  • b) Hans Vaihinger: Paulsens Spiritismus und die Postulate als Fiktion
  • c) Fritz Medicus: Popularisierung der „okkulten“ Postulate
  • d) Paulsens Antwort: der wissenschaftliche Protestantismus
  • e) Bormanns Rezeption: Paulsen ist Spiritist durch seine Deutung der Postulate
  • f) Paulsen: Kants Metaphysik zwischen Vaihinger und Spiritismus
  • g) Max Heinze: Paulsens Postulatenlesart ist spiritistisch
  • 6.3.2.3 Haeckels Reaktion: die Volksausgabe der Welträthsel und die erneute Kontroverse mit Paulsen
  • 6.3.2.4 Paulsens Antwort: Haeckel als Fanatiker
  • 6.3.2.5 Zusammenfassung
  • 6.3.3 Die erneute Kritik an Paulsen und der personelle Wechsel bei den Kant-Studien – der Spiritismus verschwindet aus der Debatte und die objektive Realität des höchsten Gutes wird Fiktion
  • 6.3.3.1 Moritz Kronenberg: Trennung von Kant und Spiritismus
  • 6.3.3.2 Paulsen: Kants Metaphysik als Wissenschaft
  • 6.3.3.3 Vaihinger/Sänger: Postulate als Symbole
  • 6.3.3.4 Paulsen: Metaphysik ohne Schwanken
  • 6.3.3.5 Bruno Bauch: Postulate als Rehabilitierung der Glückseligkeit?
  • 6.3.3.6 Rückblick: Postulate als Produkte der Phantasie bei Kuno Fischer
  • 6.3.3.7 Bauch: Postulate als psychologische Fiktionen
  • 6.3.3.8 Die Umdeutung der Postulatenlehre
  • a) Das Verschweigen des Kontextes
  • b) Wilhelm Windelbands Scheinfront: Postulate als fiktive Werte statt Fiktionen
  • c) Hermann Cohen: Postulate sind „überflüssig und verdächtig“
  • d) Zusammenfassung
  • 6.3.4 Die literarische Fixierung des Fiktionsgedankens – Die Genese von Vaihingers Philosophie des Als Ob im Diskurs
  • 6.3.4.1 Rezipienten von Vaihingers Thesen zwischen 1900 und 1904
  • a) erste Positionen von Sänger/Bauch/Heinze
  • b) William James: Fiktionen bei Kant als Beschreibung mystischer Zustände
  • c) Eislers Wörterbuch: Gott als Fiktion
  • 6.3.4.2 Vaihinger: Erste Ankündigungen zur Philosophie des Als Ob
  • 6.3.4.3 Traugott Konstantin Oesterreich: Vaihingers metaphysische Referenz
  • 6.3.4.4 Vaihingers Nivellierung der Fronten: Als Ob als Grundlage der Einheit jeder ‚vernünftigen‘ Kantdeutung
  • 6.3.4.5 Rezeption der Philosophie des Als Ob
  • a) Erich Franz: Fiktionstheorie ist kantisch
  • b) Kurt Sternberg: Als Ob bei Kant im Ansatz vorhanden
  • c) Arthur Liebert: Fiktion als Thema der Kantforschung
  • d) Julius Schultz: kategorischer Imperativ als Fiktion
  • e) Abraham Coralnik: Als Ob ist präziser Kantianismus
  • f) Georg Burckhardt: Fiktionen als Grundlage jeden Handelns
  • g) Wilhelm Windelband: Seelenwanderung und Metapsychiker
  • h) Wer sind die Metapsychiker? Walter Bormann vs. Ludwig Deinhard
  • i) Karl Vorländer: Höchstes Gut und Spiritismus
  • j) Windelband: unsterbliche Volksgemeinschaft statt unsterblicher Einzelseele
  • 6.3.5 Zusammenfassung: Als Ob wird Kanon zur Deutung der Postulate
  • 7 Neukantianismus – Die Entstehung einer „Einheit“
  • 7.1 Schulgemeinschaft oder „Auto-Suggestion“? – Forschungsdebatte um die Einheit des Neukantianismus
  • 7.2 „Zurück zu Kant“ – zwei Positionen am vermeintlichen Ursprung
  • 7.2.1 Otto Liebmann und die Eliminierung der Dinge an sich
  • 7.2.2 Friedrich Albert Lange und die „Welt der Dichtung“
  • 7.2.3 Zusammenfassung: Mystik und Materialismus als Grenzen
  • 7.3 Neukantianismus und „Zurück zu Kant“ – die Entstehung eines Ursprungs
  • 7.3.1 Haeckel, Paulsen, Cohen: Wer ist Kantianer, wer ist Neukantianer?
  • 7.3.2 Weitere Positionen zur Frage: Was ist Neukantianismus?
  • 7.3.2.1 Franz Staudinger: Neukantianer suchen (vergeblich) moralische Objektivität
  • 7.3.2.2 Ernst Troeltsch: Neukantianer als Verbündete gegen Atheismus und Spiritismus
  • 7.3.2.3 Arthur Drews: richtige Metaphysik statt Spiritismus
  • 7.3.2.4 Karl Vorländer I: politisches höchstes Gut als neukantianische Signatur
  • 7.3.2.5 Ueberwegs Grundriss: Neukantianismus erforscht nicht das Ding an sich
  • 7.3.2.6 Ferdinand Jakob Schmidt: Neukantianismus als positivistischer „Pseudokritizismus“ im Gefolge Langes
  • 7.3.2.7 Karl Vorländer II: Neukantianismus (Cohen) vs. Kantphilologie (Vaihinger, Kant-Studien, Akademie-Ausgabe)
  • 7.3.2.8 Erich Adickes: Ein System aller Kantianer
  • 7.3.3 Zusammenfassung: Neukantianismus und Mystikabwehr als Episteme der Kantdeutungen
  • 7.4 Von der prekären Einheit zur Schulgemeinschaft – Die Produktion des „Neukantianismus“
  • 8 Eduard von Hartmanns Kritik an Kant im Kontext von Spiritismus und Neukantianismus
  • 8.1 Forschungen – allgemeine Positionen
  • 8.2 Jean-Claude Wolf: Hartmanns Radikalisierung Kants
  • 8.3 Hartmann im frühen neukantianischen Diskurs
  • 8.3.1 Hartmann und Vaihinger: Was ist Neukantianismus?
  • 8.3.2 Vaihinger, Hartmann, Haeckel – Neukantianismus, Kant, Antikatholizismus
  • 8.3.3 Zusammenfassung
  • 8.3.4 Rezeption der Kontroverse – Was ist Neukantianismus?
  • 8.3.4.1 Adolf Lasson: Neukantianismus als Verleugnung von Wirklichkeit und Kant
  • 8.3.4.2 Carl Gerhard: Neukantianismus als unmoralische Verkürzung Kants
  • 8.3.5 Zusammenfassung
  • 8.4 Kant und der Pessimismus – erste Debatten um das höchste Gut
  • 8.4.1 Hartmann: Geschichte des Pessimismus
  • 8.4.2 Reaktionen
  • 8.4.2.1 Carl Schaarschmidt: ohne Postulate keine Moral
  • 8.4.2.2 Hugo Sommer: Hartmann als postulatloser Glückseligkeitsphilosoph
  • 8.4.2.3 Johannes Volkelt: Hartmann als mechanistischer Mystiker
  • 8.4.3 Zusammenfassung
  • 8.5 Hartmann und der Spiritismus
  • 8.5.1 Albrecht Krause: Kant vs. Spiritisten, Materialisten und das „Märchenhaus des Unbewussten“
  • 8.5.2 Hartmann: Untersuchung spiritistischer Erscheinungen
  • 8.5.3 Rezeption – Hartmann als spiritistischer Autor?
  • 8.5.3.1 Carl du Prel: objektive und subjektive Ursachen des Spiritismus
  • 8.5.3.2 Moritz Wirth: Hartmanns Dienst für den Spiritismus
  • 8.5.3.3 Wilhelm Wundt: Hartmann als Spiritist und Verbreiter des Aberglaubens
  • 8.5.3.4 Hartmanns Antwort: richtiger und falscher Somnambulismus
  • 8.5.3.5 Du Prels Gegenthese: Die Notwendigkeit der Geisterhypothese
  • 8.5.3.6 Hartmann: Halluzinationshypothese und Neukantianismus
  • 8.5.4 Zusammenfassung
  • 8.6 Erneute Debatte um das höchste Gut
  • 8.6.1 Friedrich Paulsen: protestantische Metaphysik statt Pessimismus
  • 8.6.2 Hartmann 1901: Postulate verhindern moralische Besserung
  • 8.6.3 Bruno Bauch: Doch Pessimismus statt Postulate?
  • 8.6.4 Hartmann: Postulate, Spiritismus und Neukantianismus
  • 8.6.4.1 Hartmanns wahrer Kant
  • 8.6.4.2 Neukantianismus, Spiritismus, Atheismus
  • 8.6.5 Zusammenfassung
  • 9 Deutscher „Geist“ statt spukende „Geister“? – Kants Postulate, Luther und der Nationalismus um 1900
  • 9.1 Der „Geist“ als Ausschlussargument
  • 9.2 Windelband, Rickert, Bauch: Eine Definition des „Geistes“
  • 9.3 Der protestantische Geist
  • 9.3.1 Rekapitulierung: Luther und Protestantismus als Essenz der deutschen Nation
  • 9.3.2 Luther und Kant in der Forschung
  • 9.3.3 Bruno Bauch: Luther führt zu Kant
  • 9.3.4 Gegenposition Julius Kaftan: höchstes Gut als Erkenntnis Gottes
  • 9.3.5 Reaktionen
  • 9.3.5.1 Friedrich Paulsen: höchstes Gut als moralische Weltordnung
  • 9.3.5.2 August Döring: höchstes Gut als Rückfall in die Antike
  • 9.3.5.3 Vaihinger vs. Hugo Bund: Kant als (anti-)protestantischer Fiktionsphilosoph?
  • 9.3.5.4 Heinrich Scholz: Kaftan als Kantianer und Okkultist?
  • 9.3.6 Zusammenfassung
  • 9.4 Die Konstruktion eines wissenschaftlichen Protestantismus
  • 9.4.1 Ernst Katzer: Kants moralisches Als Ob
  • 9.4.2 Der „Geist“ widerlegt die „Geister“?
  • 9.5 Wer bleibt unsterblich? – Spiritismus, höchstes Gut und Erster Weltkrieg
  • 9.5.1 Ernst Haeckel: Von Luther zum „deutschen“ Monismus
  • 9.5.2 Der „Geist“ im Krieg: Pflichtethik statt Postulatenlehre
  • 9.5.2.1 Rekapitulierung: Bauch, Windelband und die Pflicht gegen die deutsche Nation
  • 9.5.2.2 Karl Vorländer: kategorischer Imperativ führt den Krieg
  • 9.5.2.3 Ludwig Stein: kategorischer Imperativ als Siegeswille
  • 9.5.2.4 Hermann Cohen: Alle Juden weltweit sind protestantische deutsche Kantianer
  • 9.5.2.5 Max Frischeisen-Köhler: kategorischer Imperativ gebietet Opfer
  • 9.5.2.6 Katzer: Kants Moralgesetz führt den heiligen Krieg
  • 9.5.2.7 Wilhelm Wundt: kategorischer Imperativ als Grundlage des Staates
  • 9.5.2.8 Paul Althaus: Kant als Nachfolger Luthers
  • 9.5.2.9 Benno Erdmann: Pflicht statt Eudämonismus
  • 9.5.2.10 Georg Simmel: Krieg auf dem Boden des Absoluten
  • 9.6 Zusammenfassung
  • 10 Fazit
  • 10.1 Spuren in der heutigen Kantforschung
  • 10.2 Einfluss politisch-religiöser Diskurse auf die Wissenschaft
  • 10.3 Materialismus und Spiritismus im 19. Jahrhundert
  • 10.4 Der Swedenborg-Diskurs als Konstitutiv der Debatten um 1900
  • 10.5 Spiritistische Kantexegese im Kontext der Entstehung des Neukantianismus
  • 10.6 Debatten um das Verhältnis der Metaphysik L1 zur kantischen Morallehre im Kontext spiritistischer Vereinnahmungen
  • 10.7 Paulsens Kant und die Genese des Als Ob – Spiritismusabwehr wird zur Episteme ‚vernünftiger‘ Kantdeutung
  • 10.8 „Neukantianismus“ als Kampfbegriff im Kontext der Spiritismus-Debatte
  • 10.9 Eduard von Hartmann zwischen Spiritismus und Neukantianismus
  • 10.10 Der Kampf um den „Geist“ – Kant als Philosoph des Protestantismus und die Konstruktion der kantischen Pflichtethik
  • 10.11 Strategien der Kantaneignung
  • 11 Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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1 Einleitung

Eduard von Hartmann, der 1877 mit dem Anspruch angetreten war, die „Wiedererweckung“ des wahren „Geist[es]“ der kantischen Philosophie1 möglich zu machen, war sich durchaus bewusst, dass diese selbstbewusste Aufgabe Gegenwehr hervorrufen würde, die er dann auch gleich mit benannte. Vor allem „der bornirte Hochmuth der Neukantianer gegen Fichte, Schelling und Hegel“ sei für die unwissenschaftliche und morallose Verknappung der kantischen Lehre auf eine reine Erkenntnistheorie haftbar zu machen.2 Dem setzte Hartmann seinen eigenen Anspruch entgegen, den „Geist“ von Kants Philosophie objektiv erfassen zu können.3

Doch gerade der erhobene Anspruch auf den „Geist“ stellte, abgesehen von der grundsätzlich prekären Situation eines jeden Wahrheitsanspruches, auch noch in einem weiteren Sinn eine problematische Diskursposition dar; wenn dieser sich nämlich mit einem Anspruch auf mehrere „Geister“ überkreuzte. In einer Zeit, in der Kant als der philosophische Normautor schlechthin galt, waren spiritistische, okkultistische und parapsychologische Deutungen der kantischen Morallehre verbreitete Diskurspositionen4, welche bereits früh Widerstand provozierten.5

Die Interpretation der Moralphilosophie Kants gehört nach wie vor zu den kontrovers diskutierten Themen in der gegenwärtigen Philosophiegeschichtsschreibung in Deutschland. Erst Ende 2018 wurde zum Gottesbegriff in Kants Philosophie eine Tagung in Frankfurt (Main) abgehalten, dann fand im April 2019 eine Tagung in Kaliningrad zu Kants Ethik statt. Auf beiden ←25 | 26→Veranstaltungen prallten die verschiedenen Positionen zur kantischen Morallehre kontrovers aufeinander. Besonders wurde die Frage verhandelt, ob und, wenn ja, wie Kants Philosophie auch für eine aktuelle Moralphilosophie noch brauchbar sei oder wie sie eventuell umgedeutet werden müsse, um genau dies sein zu können.6 Dabei ist auffällig, dass die Frage nach der Aktualität der kantischen Moralphilosophie die verschiedenen Autorinnen und Autoren innerhalb der mannigfaltigen Debatten immer wieder auf ein Thema zurückführt, nämlich, wie man die Lehre vom höchsten Gut und die sich daran anschließende Postulatenlehre im zweiten Buch der Kritik der praktischen Vernunft zu verstehen habe. Gerade diese genannten Segmente rufen allseitigen Widerspruch in der Kantforschung hervor.

Wenn man einen Blick in die Literatur über die kantische Philosophie, speziell die Morallehre, wirft, gewinnt man schnell den Eindruck, dass sich die Deutungen Kants durchaus nicht innerhalb einer einheitlichen Entwicklung vollzogen. Eher erscheint die Debatte als ein unübersichtlicher Kampfplatz, in welchem konkrete Gegner meist nur verklausuliert auftauchen und die immer wieder gezogenen und verschobenen Frontlinien im Diskurs häufig im Unklaren lassen, gegen wen konkret sie gerichtet sind. Die jeweiligen Interpretationen und Aneignungen gingen mit, wie das eingangs gewählte Beispiel zeigt, teilweise massiven Verwerfungen einher, oftmals scheint es, als seien diese Verwerfungen sogar konstitutiv für die jeweils eigene Deutung. Die Debatte der Auslegungshoheit über die kantische Moralphilosophie ist nicht nur ein ‚rein‘ philosophischer Akt. Sie fand und findet in konkreten historischen Kontexten statt, in denen Philosophie nicht nur ‚sich selbst‘ reflektiert, sondern sich in religiösen und politischen Debatten zu Wort meldet, die wiederum konkreten Einfluss auf die Rezeptionen philosophischer Autoren haben. In den internationalen Spannungen um 1900 wurde das philosophische Problem der Formulierung einer zeitgemäßen Moralphilosophie unter Berufung auf Kant mit einem nationalistischen Diskurs vernäht, welcher im Umgang mit der kantischen Philosophie eine wesentliche Rolle spielte.

Doch worin besteht der Kontext, dass ausgerechnet die Lehre vom höchsten Gut und die Postulate der praktischen Vernunft so scharf abgelehnt zu werden scheinen, dass der bekannte Kantforscher Otfried Höffe noch 2012 in ←26 | 27→Hinblick auf sie vor einer drohenden „Re-Theologisierung“7 der Philosophie warnte? Hat die Debatte um die beiden betreffenden Segmente in Kants Lehre eine Geschichte, die für diese massiven Verwerfungen konstitutiv ist, die im heutigen Diskurs gegen die Lehre vom höchsten Gut in Stellung gebracht werden? Zur Beschreibung dieser historischen Dimension der sich auf Kant beziehenden Philosophie sollen konkrete Referenzen auf neukantianische Auoren in den Texten der heutigen Kantforschung verfolgt werden. Es ist hierbei auffällig, dass die meisten Forscherinnen und Forscher eine zentrale Bedeutung neukantianischer Autoren für heutige Positionierungen bezüglich der Morallehre erkennen und jene ihre Konzepte in expliziter Auseinandersetzung mit diesen entwickeln. Daher scheint es angemessen, den diskursiven Ort in den Fokus zu nehmen, an dem mit dem Ruf ‚Zurück zu Kant!‘ Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Art der Philosophie in Anlehnung an Kant propagiert wurde. Denn genau dieser Kontext eines „Zurück zu Kant“ wird in gegenwärtigen Debatten der heutigen Kantforschung immer wieder herangezogen zur Bewertung aktueller Positionen.

In Anbetracht dessen, dass die kantische Philosophie offensichtlich verschieden gedeutet wurde und wird, aber gleichzeitig scharfe Kritiken und Verdikte in Bezug auf die Postulatenlehre in den Diskurs geworfen werden, drängt sich die Frage nach konkreten historischen Kontexten, in denen bestimmte Deutungen der Postulatenlehre vorgenommen wurden, geradezu auf. Dabei geht es mir nicht darum, einen Anfang oder gar den Ursprung der Debatte um Kants Morallehre, speziell die Postulate, zu identifizieren. Der Kontext um 1900 kann, als ein „Umschlagplatz“ philosophischer Interessen8, nicht monokausal auf einen bestimmten Grund zurückgeführt werden. Mehrere politische, konfessionelle, philosophische und kulturelle Phänomene traten in der Zeit auf und philosophische Diskurse wurden in diesen religiösen oder politischen Kontexten geführt, ohne die sich bestimmte Transformationen in der Kantdeutung nicht nachvollziehen lassen. Anstatt also einen Ursprung der Debatten zu erkennen, ist das zentrale Anliegen dieser Arbeit ein historisches, d. h. zu untersuchen, wie in Bezug auf die Deutung der Postulate und der Lehre vom höchsten Gut bestimmte wirkmächtige Themen und Positionen im Diskurs in ←27 | 28→Abgrenzung zu konkurrierenden Modellen entstehen und wie diese dann tradiert bzw. rezipiert worden sind. Zudem sind die diskursiven Strategien zu analysieren, ob und wie bestimmte Konzepte hegemonial durchgesetzt wurden.

Der Leipziger Philosoph und Philosophiehistoriker Klaus Christian Köhnke hatte bereits 1986 bzw. 1993 ein weitgehendes Defizit historischer Forschungen zum Neukantianismus ausgemacht und den positiven Effekt historischer Annäherungen an die Philosophiegeschichte betont. Historische Arbeit gestatte es nämlich, die Verzahnung philosophischer Konzepte in den zeitgenössischen Kontext herauszuarbeiten und „eine bloße Bestätigung des gegenwärtigen Denkens anhand eines ihm entsprechend ausgewählten geschichtlichen Materials“ zu vermeiden.9 Köhnke verweist auf zwei Hauptprobleme im Umgang mit dem Neukantianismus, einerseits die Tendenz, den Neukantianismus ahistorisch in einen geschichtsteleologischen Zusammenhang einzubetten und andererseits, aber damit zusammenhängend, die Gefahr, die „neukantianische Glorifizierung der eigenen Geschichte“ unkritisch zu tradieren.10 Demgegenüber müsse man zu den Quellen zurückgehen und erneut die Frage nach der Faktizität stellen.11

Doch ist in diesem Kontext Werner Flachs Kritik an Köhnke ernst zu nehmen, dass eine historische Arbeit nicht zu einer bloßen „Zeitgeistanalyse“ werden dürfe und das „sachlich-systematische Anliegen des Neukantianismus“, seine „Programmatik“, ernst nehmen müsse12. Dies ist dahingehend zu beachten, als, wie in dieser Arbeit beschrieben wird, neukantianische Autoren sehr wohl für die Positionierung in der heutigen Forschung herangezogen werden. Die von Köhnke zentral geforderte Rückkehr zu den Quellen ermöglicht daher nicht primär nur eine Unterbrechung eines bestimmten Narrativs, sondern vor allem auch die Beschreibung seiner Genese im Diskurs oder konkret: auf welche historischen Orte sich in der Rezeption berufen wurde, welche Systematiken unter Bezug auf diesen Kontext entstanden und hegemonial abgesichert wurden, welche tradiert, welche ignoriert wurden und wie der Bezug auf neukantianische Autoren und ihre „Programmatik“ die heutige ←28 | 29→Forschung strukturiert. Es ist offensichtlich kein Zufall, dass Programmatik und die Suche nach dem „Geist“ der kantischen Morallehre ebenfalls zeitgenössisch zur Debatte standen und, wie bereits erwähnt, ein wichtiges Merkmal neukantianischer Selbstpositionierungen waren.

Ein weiterer wichtiger Autor, der sich mit der Geschichte des Neukantianismus beschäftigte, ist der Marburger Philosophiehistoriker Ulrich Sieg. Siegs Vorgehen orientiert sich am Historismus Rankes und an den Darstellungen Thomas Nipperdeys, betrachtet also den Neukantianismus als ein Phänomen „unmittelbar nur zu sich selbst“.13 Zu diesem Zweck legt Sieg sein Hauptaugenmerk auf die universitätspolitischen Frontlinien an den Universitäten im Kaiserreich, besonders an der Universität Marburg, wo der bedeutende neukantianische Philosoph Hermann Cohen mehrere Jahrzehnte lang Professor war und massiven Einfluss auf die Universitätspolitik nahm. Auch die vorliegende Arbeit wird die neukantianischen Debatten im Kontext untersuchen und zudem, ergänzend zu Siegs Darstellung, auch die Rezeption in den Blick nehmen, in denen der Neukantianismus, wie von Köhnke bereits betont, nicht unmittelbar zu sich selbst, sondern als Identitätsmarker und Abgrenzung in der damaligen wie heutigen Kantforschung herangezogen wurde und wird. Offensichtlich sind die Definitionen von „Neukantianismus“ nicht zu trennen von einem derzeit aktuellen wissenschaftlichen Diskurs, in dem Kants Morallehre und besonders eine bestimmte Deutung der Postulate zentrale Anliegen der Kantforschung ausmachten.

In Anknüpfung an die Kritik Köhnkes und Flachs erfordert historische Arbeit eine Beschreibung der Grenzen der jeweiligen Diskurse, also konkret der Ausschließungsprozeduren, die im Diskurs installiert wurden und die damalige systematische Debatte um Kant strukturierten.

Neukantianische Autoren schrieben in einem konkreten Kontext und reflektierten diesen in ihrer jeweiligen Programmatik; eine konsequent historisch-kritische Philosophiegeschichte kann durch Beschreibung der Grenzen und ihrer Verortung im Diskurs genau diese wechselseitigen Verwobenheiten herausstellen. Wie oben erwähnt, erscheint die Debatte neukantianischer Autoren im Kontext zeitgenössischer spiritistischer, aber auch materialistischer Kantvereinnahmungen eher als „Umschlagplatz“, als ein Feld gegenseitiger Bezugnahmen und Abgrenzungen, weniger als eine einheitliche Entwicklung. Gerade die Darstellung der Pluralität zeitgenössischer Kantdeutungen wird in ←29 | 30→dieser Studie eine zentrale Rolle spielen. Denn anstatt eine vollständige Diskursanalyse vorzunehmen, sozusagen eine umfassende Definition dessen, was „Neukantianismus“ ‚ist‘, wird es darum gehen, die vielschichtigen und klar aufeinander bezogenen Debatten und ihre Effekte innerhalb des Diskurses zu beschreiben, die im Kontext einer hegemonialen Durchsetzung bestimmter Lesarten der Postulatenlehre zur Entstehung einer als Neukantianismus bezeichneten Schulgemeinschaft führten. Eine Hauptthese dieser Arbeit ist in diesem Zusammenhang, dass Definitionen, Festlegungen philosophischer Traditionen und Selbst- oder Fremdbeschreibungen von Segmenten wie ‚Materialismus‘, ‚Spiritismus‘, ‚Neukantianismus‘, ‚Positivismus‘ etc. weniger auf philosophische Entitäten verweisen, sondern im Umkehrschluss diese zuallererst im Kontext einer Debatte produzieren und als Kampfbegriffe in den Diskurs einführen. Jede Definition ist daher gleichzeitig eine Festlegung dessen, was die Definition konkret ausschließen soll, und nicht zu trennen von den Praktiken, die diesen Ausschluss stabilisieren.

Zur Beschreibung zentraler Themen um 1900 werde ich einzelne Monografien in den Blick nehmen, die sich dezidiert mit der kantischen Lehre vom höchsten Gut und den Postulaten beschäftigen. Diese Monografien wurden durch Zeitschriftenartikel, Rezensionen, Broschüren und Kommentare, genauso wie durch Werbung von Verlagen, dann in einem bestimmten Diskurs platziert. Diese Platzierungen beeinflussten im Folgenden wiederum die weitere Tradierung der Monografien und nahmen eine performative Bestimmung ihrer zentralen Themen vor. Dabei fällt auf, dass in der zeitgenössischen Debatte um die Deutung der Postulatenlehre und der Lehre vom höchsten Gut immer wieder auf einzelne zentrale Autoren und ihre Texte verwiesen wird. Besonders Die Welträthsel des Zoologen Ernst Haeckel sind hier zu nennen. Aber auch weitere Autoren veröffentlichten Bücher mit weitreichenden Wirkungen: Eduard von Hartmann mit seiner Philosophie des Unbewussten, einem der zentralen Texte Ende des 19. Jahrhunderts, der bis 1900 immer wieder neu aufgelegt wurde und die Diskussionen um die Jahrhundertwende stark beeinflusste; Hans Vaihinger mit seiner Philosophie des Als Ob, deren Grundzüge in der Debatte um 1900 definiert wurden; des Weiteren der Philosoph und Okkultist Carl du Prel, der mit Hans Vaihinger korrespondierte und mit der Wiederveröffentlichung eines Teils der kantischen Metaphysikvorlesung L1 nach Pölitz Ende des 19. Jahrhunderts eine intensive Debatte bezüglich der Morallehre Kants anstieß. Auch ist einzugehen auf Friedrich Paulsen, der 1898, kurz vor Haeckels Buch, mit Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre einen weiteren philosophischen Bestseller veröffentlichte, der ebenso innerhalb der Kantforschung dieser Zeit massiv rezipiert wurde. Diese fünf Autoren stehen nicht im ‚luftleeren‘ Raum, ←30 | 31→sondern sie stellen zentrale Punkte im Diskurs dar, an denen sich verschiedene Debatten überkreuzten. Ich werde daher die Einbettung dieser Autoren im zeitgenössischen Kontext beschreiben und Verwobenheiten untersuchen. Ich verstehe meine historische Herangehensweise in Ergänzung zu systematischen Standpunkten als Untersuchung eben des konkreten Kontextes um 1900, in dem spiritistische und materialistische Positionen weithin rezipierte Diskurssegmente waren, die in der zeitgenössischen Kantforschung zur Deutung der Lehre vom höchsten Gut breit diskutiert wurden und in der Folge die Deutung der Postulate massiv beeinflussten. Die eben genannten Autoren wurden wiederkehrend als Autorität beschworen bzw. zur Verteidigung einer Position im Diskurs akzeptiert oder verworfen. Die Arbeit mit diesen Texten und ihrer Rezeption im zeitgenössischen Diskurs soll helfen, die Ausschlüsse der jeweiligen wissenschaftlichen und politischen Gegner zu konkretisieren, die im Kampf um die Deutungshoheit über die kantische Postulatenlehre sich zueinander bzw. gegeneinander positionierten. Philosophische und politische Konzepte oder Identitäten sind der Effekt von Ausgrenzungsstrategien gegen andere Positionen und folgen hier spezifischen Interessenlagen, deren diskursive Spuren es in dieser Arbeit zu beschreiben gilt.

Die Struktur dieser Arbeit wird sich daher auch nicht nur an einer chronologischen Abfolge orientieren. Die Rezeption der Texte richtete sich oft nicht nach chronologischen Linien, sondern wurde von zeitgenössischen Problem- oder besser: Interessenlagen bestimmt, in denen wissenschaftliche und politische Themen verhandelt und oftmals kontrovers aufeinander bezogen wurden. Themen, die Jahre zurücklagen, wie etwa der Bismarcksche Kulturkampf oder die Veröffentlichungen bekannter neukantianischer Autoren, wurden in aktuellen historischen Lagen erneut beschworen, transformiert, reifiziert und gegen gegnerische Positionen in Stellung gebracht. Daher soll das Vorgehen dieser Arbeit sich auch an thematischen Schwerpunkten abarbeiten und verschiedene Spuren in den zeitgenössischen wie gegenwärtigen Texten verfolgen. Die Frage nach der Platzierung der Postulatenlehre und der Lehre vom höchsten Gut im Kontext um 1900 bestimmt hierbei das zu beschreibende historische Feld, in welchem materialistische, spiritistische oder neukantianische Positionen entstanden und sich verorteten. Die Platzierung oder Zuschreibung einer bestimmten Position in der Diskussion um die Postulate ist hierbei, unter Bezug auf Köhnke und Sieg, nicht zu trennen von weiteren Diskussionen im Kontext des Kaiserreiches. Politische und konfessionell-religiöse Verwerfungsstrategien spielten in der kontroversen Auslegung der kantischen Morallehre eine erhebliche Rolle, zumal jene meist auf eine längere Geschichte bezogen worden sind, denen sie ihre Wirkmacht im Diskurs entlehnten. Auf die Genese ←31 | 32→dieser politischen Ausschlüsse ist daher ebenso in Stichworten einzugehen, ohne jedoch eine vollständige Beschreibung der politischen Verwobenheiten des 19. Jahrhunderts vorzunehmen. Die verschiedenen Texte sollen als Teil eines Netzes eng miteinander verzahnter pluraler Debatten verstanden werden, in denen ihnen je nach Debattenlage eine spezifische Position zugewiesen und diese Zuweisung in Bezug auf die Postulatenlehre durch politische oder religiöse Argumente abgesichert werden sollte.

Zur konkreten Vorgehensweise meiner Arbeit: Gerade durch das 1874 erlassene neue Pressegesetz im Kaiserreich, das Zeitungsgründungen vor allem finanziell stark vereinfachte, kam es Ende des 19. Jahrhunderts zu zahlreichen Neugründungen von Magazinen, die sich entweder in einem universitätspolitischen oder einem eher kulturpolitischen Kontext mit philosophischen Themen beschäftigten. Diese Dichte an neuer Zeitungsliteratur erlaubt weitere Einblicke in den Rezeptionskontext der relevanten Monografien zur Postulatenlehre, ihrer Verbreitung und Uminterpretation. Die meisten dieser seinerzeit veröffentlichten Zeitschriften sind online zugänglich oder problemlos in den nahegelegenen Bibliotheken in Halle und Leipzig einsehbar. Auf dieser Basis gestattet die Arbeit mit Zeitschriftenliteratur oder Broschüren eine effiziente Beschreibung der Effekte einzelner Texte und Themen im Diskurs sowie deren Tradierung. In Zeitschriftenartikeln wurden die jeweils neuen Frontstellungen in Bezug auf die Rezeption der kantischen Morallehre diskutiert und bewertet, während die Ergebnisse dieser Debatten wiederum in neue Monografien und Lexika Eingang fanden, die sich konkret mit der Morallehre Kants und der Lehre vom höchsten Gut beschäftigten und den kanonischen Rahmen für ihre Interpretation performativ abgrenzten und festlegten. Da sich gegenwärtige Texte zur Erforschung der Postulatenlehre häufig auf diese Diskussionen um 1900 beziehen und Positionen verschiedener Autoren der damaligen Zeit in einem heutigen Kontext gegeneinander positionieren, um damit auf aktuelle Frontstellungen zu reagieren, wird die historische Analyse des Kontextes um 1900 Schlüsse zulassen auf die Entstehung eines philosophischen Kanons der Auslegung von Kants Morallehre. Gerade die bis heute offensichtlich erkannte Relevanz neukantianischer Debatten, die nicht von der Beschreibung der zeitgenössischen Diskussion trennbar ist, wird im Rahmen dieser Arbeit zu diskutieren sein.

Doch bestimmte Themen zur Deutung der Postulatenlehre waren nicht statisch an einzelne Texte gekettet. Themenstellungen tauchten in verschiedenen Texten mit jeweils different akzentuierten und verschobenen Schwerpunkten wieder auf. Texte bezogen sich teilweise aufeinander, ohne jedoch explizit Zitate kenntlich zu machen, oftmals wurden Autoren aus strategischen Gründen ←32 | 33→nicht genannt, obwohl ihre Modelle tradiert wurden. Deutungen und Interpretationen wurden aufgerufen und einer bestimmten Position oder einem bestimmten Autor zugeschrieben, um strategische Definitionen und Abgrenzungen vornehmen zu können. Daher wird sich diese Arbeit mit spezifischen Debattenlagen zu beschäftigen haben und genau diese Zitierstrategien untersuchen müssen. Dazu ist die Analyse von Zeitschriftenartikeln und Rezensionen hilfreich. Im Kontext der Debatten um 1900 wurden verschiedene spezifische Themen verhandelt, die allesamt mit der Interpretation der Postulatenlehre in Zusammenhang gesetzt wurden:

Aus diesen Fragestellungen ergibt sich die Vorgehensweise meiner Arbeit. Es ist hierbei zuerst auf den derzeitigen Diskurs über Kants Postulatenlehre und das höchste Gut einzugehen. Gerade in der Debatte um die einflussreiche und viel gelesene Zwei-Aspekte-Lehre des US-amerikanischen Kantforschers Lewis White Beck geht es zentral um die Deutung der kantischen Postulatenlehre. In diesem Kontext werden neukantianische Autoren aufgerufen zur Abgrenzung der jeweils eigenen Position. Es wird zudem thematisiert, wie die Forschungen zum Neukantianismus mit der derzeitigen Deutung der Postulate in einen Zusammenhang gesetzt werden, welche Abgrenzungen installiert, welche Kontinuitäten beschworen werden. Inwieweit wird eine Aktualität neukantianischer Diskussionen für heutige Kontroversen erkannt oder verworfen und wo zeigen sich darin Spuren historischer Differenzen? Eine immer wieder auftauchende namentlich benannte Front in der heutigen Neukantianismus-Forschung ist hierbei der Materialismus im 19. Jahrhundert.

Die Deutungen der kantischen Morallehre um 1900, die in den heutigen Texten zitiert werden, fanden nicht in einem ‚rein‘ akademischen Kontext statt. Das 19. Jahrhundert war eine Zeit mannigfaltiger politischer, kultureller, religiöser und wirtschaftlicher Umbrüche. Besonders die sich konstituierende universitätsgebundene Geschichtsschreibung dieser Zeit fand vor dem Hintergrund konfessioneller Frontstellungen statt, die den Wissenschaftsbetrieb massiv beeinflussten. Auch die Kantforschung dieser Zeit bediente sich Abgrenzungen, die konfessionelle Differenz zur Markierung bzw. performativen Beschreibung von (Un-)Wissenschaftlichkeit inszenierten. Es soll nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, einen allumfassenden Überblick über die komplexen Debattenlagen des 19. Jahrhunderts zu geben. Vielmehr sind die Frontlinien kurz zu beschreiben, die in der Debatte um Kant herangezogen wurden, um der jeweils eigenen Deutung der Postulatenlehre Autorität im Diskurs zu verschaffen durch Ausgrenzung des Gegners, oftmals auf der Achse der Moral oder der Achse der (politischen) Macht. Die Tragweite des Arguments, der Gegner betreibe aufgrund einer ‚falschen‘ Kantlesart katholische ←33 | 34→oder sozialdemokratische Agitation, ist hierin nicht zu unterschätzen. Daher soll auf die Vorgeschichte antikatholischer und antisozialistischer Ausschließungsprozeduren stichwortartig eingegangen werden, um deren Tragweite im Diskurs um Kants Morallehre um 1900 illustrieren zu können. Die Macht eines auf Basis von konfessionellen oder parteipolitischen Äußerungen vorgenommenen Ausschlusses äußert sich darin, dass dieser Ausschluss sich auf eine Tradition berief, die mit der Entstehung des Kaiserreiches im Kontext der Konfessionalisierung und dessen akademischer Landschaft eng zusammenhängt. Als Fallbeispiel für die Verwobenheiten von religiösen, politischen und wissenschaftlichen Argumenten wird der Materialismus-Streit kurz vorgestellt. Dessen Effekte wurden um 1900 in Bezug auf Kants Morallehre immer wieder diskutiert.

Gerade im Kontext der Publikation der Haupttexte von Ernst Haeckel, besonders der Welträthsel, spielten diese Verwerfungen eine große Rolle. Zur genaueren Untersuchung der in der Neukantianismus-Forschung meist nur nebenbei erwähnten Materialismusfront und deren Einflusses auf die Entstehung einer „Fachphilosophie“ werden die Texte Haeckels im Kontext vorgestellt. Besonders Haeckels Deutungen zur Moralphilosophie und den Postulaten sowie seine Beschäftigung mit dem Spiritismus, die in vielen Texten Haeckels Negativfolie ausmacht, stehen im Fokus.

Im Folgenden ist auf die Hauptprotagonisten des Spiritismus einzugehen, die in Haeckels Texten auftauchen. Gerade spiritistische Kantdeutungen berufen sich zur Konstruktion einer Vorgeschichte oder Tradition immer wieder auf die Diskussionen um Kants Verhältnis zu dem schwedischen Philosophen und Theologen Emanuel Swedenborg, die in direktem Zusammenhang mit den Diskussionen um die kantische Morallehre geführt wurden. In diesem Kontext wurde vor allem auch das Verhältnis von Kants vorkritischen Schriften, etwa der Träume eines Geistersehers, zu seinen kritischen Texten, wie der zweiten Kritik, thematisiert und kontrovers besprochen. Es wird daher nötig sein, die der Debatte um 1900 vorausgehende und später wieder aufgerufene Debatte um Swedenborg und seine Rezeption im Spiritismus und Mesmerismus des späten 18. und 19. Jahrhunderts kurz darzustellen. Diesem folgend werden auch die Texte zentraler spiritistischer Akteure der Zeit vorgestellt.

Die Darstellungen der Texte Haeckels und spiritistischer Autoren wie Carl du Prel wird zudem auf deren Rezeptionskontext einzugehen haben, um die Strategien zu verfolgen, wie deren Hauptpunkte im Diskurs generiert und rezipiert wurden und wie diese Rezeptionen wiederum im Zusammenhang mit Deutungen der Postulatenlehre durch neukantianische Autoren stehen. Gerade ←34 | 35→die Popularisierung der Front gegen spiritistische Kantdeutungen durch Hans Vaihinger in dessen Kant-Studien im Zusammenhang mit der Rezeption von Friedrich Paulsens Immanuel Kant sind im Kontext der Entstehung von Vaihingers Philosophie des Als Ob und eines Kanons zur Deutung der Postulate zu analysieren.

Im Zusammenhang dieser Debatte ist auch auf die Diskussion zur Datierung der bis heute umstrittenen kantischen Vorlesungsmitschriften, vor allem in einer Zeit kurz vor der entstehenden Ausgabe der Gesammelten Schriften Kants durch die Preußische Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe), die bis heute als kanonisch in der Kantforschung gilt, zu thematisieren. Es ging nämlich in der dafür eingesetzten Kommission unter dem Vorsitz des Philosophen und Historikers Wilhelm Dilthey genau um die Frage, ob und, wenn ja, wie die Vorlesungsmitschriften (1) in die Akademie-Ausgabe aufgenommen werden sollten, (2) wie das Verhältnis Kants zu Swedenborg zu thematisieren sei und (3) ob in diesem Zusammenhang dann die (vor-)kritischen Moralschriften Kants neu zu bewerten seien. Ein zentraler Ausgangspunkt der Debatte war hier die bereits erwähnte Wiederveröffentlichung der L1-Vorlesungsmitschrift über Metaphysik durch Carl du Prel. Zum Beispiel wurde im Gefolge dieser Publikation die Frage gestellt, ob Kant in der zweiten Kritik mit der von ihm vertretenen „objektiven Realität“ der Postulate14 noch eine real existierende, unsterbliche Seelensubstanz, die dann auch empirisch erscheine, meinen könnte oder nicht. Die Vorlesungsmitschriften und ihre kontroverse Verortung und Deutung dienten hier insbesondere dem Versuch, die kritischen Schriften Kants, vor allem die zweite Kritik, in die zeitgenössischen Frontstellungen gegen Materialismus und Spiritismus einzureihen, um dann Kants Morallehre zur Bestätigung der eigenen Kantlesart zu verwenden, in der die objektive Realität der Postulate zur Diskussion stand. Besonderen Auftrieb erhielt die Debatte durch die Diskussion über die oben erwähnte Gesamtausgabe kantischer Schriften und letztlich um die quelleneditorische Frage, ob die Vorlesungsmitschriften mit hineingenommen werden sollen oder nicht.15 Die Entstehung eines kanonischen Gesamtwerks von Kants Texten, besonders der Vorlesungen, ←35 | 36→wurde massiv von Debatten um mystische Kantdeutungen spiritistischer und materialistischer Autoren begleitet.

Im Diskurs um das Kantbuch Paulsens und um Haeckels Veröffentlichungen zeigten sich die unterschiedlichen Frontstellungen in Bezug auf die Postulatenlehre. Zudem wurde in dieser Situation eine polemische Diskussion geführt, in der es um die Ein- und Abgrenzung einer sich auf Kant beziehenden Philosophie ging. Es wird hier die Frage zu stellen sein, durch welche Praktiken die „philosophische Schulgemeinschaft“16 ‚Neukantianismus‘ um 1900 als eine einheitliche Bewegung mit einer einheitlichen Programmatik konstruiert wurde. Die Diskussion um das jeweilige ‚Wesen‘ des Neukantianismus wurde in direktem Zusammenhang zur Deutung der eben genannten „objektiven Realität“ der Postulate in Kants Morallehre und der Bewertung des Verhältnisses zu Swedenborg geführt. Es gilt weiterhin zu untersuchen, wie es im Kontext von Ausschlüssen spiritistischer und materialistischer Deutungen der Postulatenlehre zur Genese eines neukantianischen Diskurses kam, ob zentrale wirkmächtige Elemente des Neukantianismus sich also im Grunde der Abwehr spiritistischer und materialistischer Kant-Deutungen verdanken. Das ist einer der zentralen Ausgangspunkte der gesamten Untersuchung. Gesondert ist in einem Kapitel auf die Verwobenheit des damals berühmten Philosophen Eduard von Hartmann in diese Debatten einzugehen. Hartmann selbst brachte eine wirkmächtige Definition von „Neukantianismus“ in die Debatte, in der das Wort vor allem als polemische Beschreibung seiner Gegner fungierte.

Des Weiteren beeinflusste die Debatte um moralische Werte, die als möglicher Ersatz für die kantischen Postulate eingetragen wurden, massiv den nationalprotestantischen Diskurs dieser Zeit. Die Kulturkampfgesetze und die 1878 folgenden Sozialistengesetze Bismarcks, die die Konstruktion einer deutschen Nation unter Ausgrenzung alles „Undeutschen“ konstitutiv begleiteten bzw. ermöglichten und auf eine längere Vorgeschichte antikatholischer und antisozialistischer Vorurteile verwiesen, leiteten eine Phase massiver Verwerfungspraktiken in der akademischen Landschaft in Deutschland ein. Der „Vorwurf“, Katholik oder Sozialdemokrat zu sein, beinhaltete die Unterstellung, einen Umsturz der herrschenden politischen Ordnung in Deutschland anzetteln und die Wissenschaft dazu als Mittel zum Zweck missbrauchen zu wollen. Dieses Argument wurde im akademischen Diskurs vielfach benutzt, um gegnerische Wissenspositionen auf der Achse ←36 | 37→der Moral anzugreifen. Viele Autoren konstruierten auf Basis einer Lesart der kantischen Postulatenlehre einen wissenschaftlich objektiv beweisbaren Protestantismus, den man vom „unwissenschaftlichen“ Katholizismus, Sozialismus und Spiritismus abgrenzen könne. An dieser Stelle überkreuzten sich politische und wissenschaftliche Argumente: Es wurde unter Bezug auf die Postulatenlehre eine Doppelfront errichtet, in der einerseits eine Verbindung zwischen Luther und Kant in einem „protestantischen Geist“ oder einem „protestantischen Prinzip“ behauptet wurde, der im 19. Jahrhundert schließlich in die deutsche Nation einmünde. Luther galt nun als wesentlicher Vorläufer der kantischen Morallehre. Dieser „deutsche Geist“ diente gegen den Materialismus als wissenschaftliche Verteidigung des Glaubens an übersinnliche Postulate wie unsterbliche Seele und Gott, die entsprechend der diskursiven Frontstellungen modifiziert wurden. Andererseits wurden bestimmte Positionen verworfen oder verschwiegen, die die objektive Realität der Postulate empirisch bewiesen zu haben behaupteten: die Spiritisten. Das Argument, katholische oder sozialistische Argumente zu vertreten, diente in diesem Kontext dazu, dem jeweiligen Gegner Unwissenschaftlichkeit zu unterstellen, die sozusagen gleichzeitig staatsgefährdend war. In diesem Zusammenhang werde ich, in Verbindung mit der Aneignung Kants als ‚deutschen Philosophen‘, schlaglichtartig auf die Debatte um Kant zu Beginn des Ersten Weltkrieges eingehen. Wie Klaus Böhme in seiner Einleitung zu seinem 2014 erneut veröffentlichten Sammelband Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg nicht zu Unrecht bemerkte, wurde der Krieg von der Mehrzahl deutscher Professoren gutgeheißen.17 Namhafte Protagonisten der damaligen Hochschulpolitik – Ernst Haeckel, Wilhelm Wundt, Hermann Cohen, Wilhelm Windelband, Karl Vorländer und Hans Vaihinger – äußerten sich, unter explizitem Bezug auf ihre eigenen wissenschaftlichen Projekte, ausdrücklich positiv zu der Bedeutung des Krieges. Immer wieder wurde zu diesem Zweck Kants Morallehre herangezogen, wenn zum Beispiel Karl Vorländer, Herausgeber einer bis heute zitierten Ausgabe kantischer Werke, den kategorischen Imperativ als die „Kraft, die wahrhaft Siege schafft“ bezeichnete.18

In einem abschließenden Fazit werden die Ergebnisse dieser Studie zusammengefasst.←37 | 38→

Zur Zitation: Ich zitierte Kants Werke nach den Gesammelten Schriften, herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, ab Band 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Band 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900 ff., mit der derzeit üblichen Zitierweise, die von den Kant-Studien publiziert wurden.19

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2 Die Interpretation der Postulatenlehre in der modernen Kantforschung

2.1 Der Umgang mit der Postulatenlehre bei Kant – allgemeine Diagnosen

In der Beschreibung des aktuellen Forschungsstands zur Deutung der kantischen Postulatenlehre ist meiner Meinung nach eine Tendenz unübersehbar: Kants Moralphilosophie einem gegenwärtigen Verständnis davon anzupassen, was nach Maßgabe vieler Forscherinnen und Forscher Philosophie im Allgemeinen und Ethik im Besonderen in einem Kontext leisten muss, in dem der Glaube an Übersinnliches durch einen Prozess der Modernisierung bzw. im Kontext ‚der‘ Moderne immer mehr im Rückgang begriffen sei.

2.1.1 Thomas Höwing: das Problem höchstes Gut/Postulate

Erst kürzlich bemerkte Thomas Höwing zu diesem Thema in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband The highest Good in Kant’s Philosophy, das Problem im Umgang mit der Postulatenlehre bestehe darin, dass durch die Existenz dieser Lehre das traditionelle Bild von Kant als das eines scharfen Religionskritikers im Zuge einer säkularen Aufklärung ins Wanken gerate. Erstens scheine es so, als ob Kant der Glückseligkeit nun doch einen moralischen Status zuspreche. Andererseits, da sich das Streben nach dem höchsten Gut, also das moralische Handeln, an Gott und ein Leben nach dem Tod halten muss, ziehe Kants Lehre des höchsten Gutes eine tiefe Verwandtschaft zwischen moralischem Bewusstsein und religiöser Weltsicht nach sich. Für Höwing ist es daher leicht verständlich, warum diese Lehre gegenwärtig so scharf kritisiert wird, vor allem von Anhängern von Kants Moralphilosophie. Die Kritiker würden daher meist genau die Punkte anführen, die Höwing selbst exemplarisch vorstellt: dass die Lehre vom höchsten Gut Kants Moralphilosophie korrumpiere (1) durch Wiedereinführung der Glückseligkeit in die Moral und (2) durch die Behelligung des moralischen Bewusstseins mit theologischen Argumenten. Dagegen aber beharrt Höwing auf der produktiven Seite dieser Lehre, „the doctrine of the highest good invites us to rethink the somewhat schematic picture that we have of Kant’s moral philosophy“. Kants Morallehre sei global angelegt, nach ihr sei moralisches Handeln „an essential co-operative ←39 | 40→enterprise, aiming at the realization of a shared vision of the world“.1 Die Lehre vom höchsten Gut füge zu Kants Darstellung einer moralischen Agenda den Gedanken hinzu, „that there is a community of moral agents that transcends the contingent borders of culture and society“.2

Höwing geht in seiner kurzen Beschreibung nicht auf konkrete Kontexte ein, doch lässt sich aus seiner Diagnose, dass wir, aufgrund der Lehre vom höchsten Gut, Kants gesamte Moralphilosophie neu denken sollten, ersehen, dass diese Lehre anscheinend bisher als ein Mangel in Kants Moralphilosophie gesehen wurde, den man transformieren oder verwerfen müsse. Diesem versucht Höwing nun entgegenzuarbeiten, indem er gerade auf die Wichtigkeit dieser Lehre hinweist, die letztlich die Blaupause liefere für eine „shared vision of the world“. Offenbar sieht aber auch Höwing in der Postulatenlehre in gewisser Weise ein problematisches Segment innerhalb der kantischen Philosophie, das einer speziellen, nun positiv gefassten Interpretation bedürfe, die sich von der Interpretation unterscheidet, die für den „Rest“ der kantischen Philosophie nötig bzw. angemessen sei. Wenn man einen Blick in die gegenwärtige Kantforschung wirft, scheint sich diese Sicht zu bestätigen. Für viele Autorinnen und Autoren ist die Postulatenlehre ein Ort, der eine weitgehende Modifikation der gesamten kantischen Philosophie nach sich ziehen müsse.

2.1.2 Jürgen Habermas: Kant als nach-metaphysischer Denker

Jürgen Habermas zufolge befinde sich in Kants Philosophie das Dilemma einer Zwei-Reiche-Lehre (Vernunft vs. Sinnlichkeit), in welchem eben dieses Übersinnliche, wo Höwing den Hauptgrund der Kritik der heutigen Interpreten an Kant sieht, thematisiert werde. Habermas fordert, sein Konzept der Diskursethik als Kant-Hermeneutik anzuwenden, diese vormoderne Zwei-Welten-Lehre damit preiszugeben und so die kantische Moralphilosophie für die Moderne kompatibel zu machen.3 Moderne versteht Habermas, der sich dabei dezidiert auf die Kantdeutung Hegels bezogen wissen will4, als das Ergebnis eines objektiven und vor allem transzendent-vernünftigen Prozesses:

Details

Seiten
698
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631872260
ISBN (ePUB)
9783631872277
ISBN (Hardcover)
9783631865538
DOI
10.3726/b19380
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (März)
Schlagworte
Kant Neukantianismus Spiritismus Materialismus Protestantismus Postulatenlehre
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 698 S.

Biographische Angaben

Hauke Heidenreich (Autor:in)

Hauke Heidenreich ist promovierter Historiker und arbeitet als Referent für Engagement und Erinnerungskultur am Grünen Band in Sachsen-Anhalt. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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Titel: Die Entstehung des wahren Kant
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